- israelitische Dorfkultur: Hirten und Bauern schließen sich zusammen
- israelitische Dorfkultur: Hirten und Bauern schließen sich zusammenZwischen 1200 und 1150 v. Chr. kamen nach Ausweis des archäologischen Befundes sowohl die kanaanäische Stadtkultur als auch die ägyptische Herrschaft in Kanaan zu einem Ende. Zahlreiche Städte wurden zerstört und nicht wieder aufgebaut. Wo nach der Zerstörung wieder besiedelt wurde, war die Nachfolgesiedlung viel bescheidener. Dem kulturellen Bruch mit dem Ende der Stadtkultur entspricht das Ende der bisherigen politischen Strukturen. Diese Zäsur markiert zugleich den Aufstieg der neuen israelitischen Dorfkultur. Sie bestimmt in kultureller und politischer Hinsicht zwischen 1200 und 1000 den Raum Kanaan; in archäologischer Hinsicht wird die Epoche als Eisenzeit I (1250-1000) bezeichnet.Die Gründe für den Niedergang und das Ende der kanaanäischen Städte sind vielschichtig. Neben der ökonomischen Erschöpfung als Folge der politischen Verhältnisse und zusätzlich zu der Schwächung durch die Konflikte der Stadtfürsten untereinander spielen vor allem die Bedrohung der Städte durch die offensichtlich anwachsenden Gruppen der aus den Stadtstaaten »ausgezogenen« Bauern und Handwerker, der Hapiru, und der halbnomadischen Hirtensippen, der Schasu, also der sich organisierenden »Befreiungsbewegungen«, eine wichtige Rolle, aber auch ökologische Gründe (zum Beispiel Auslaugung der Böden) und insbesondere die ab 1200 v. Chr. einsetzende Invasion der Seevölker, die vermutlich am meisten zur Zerstörung der kanaanäischen Städte beigetragen haben.Parallel zum Schwinden der Städte nahm ab 1200 v. Chr. die Zahl von Dörfern und Gehöften im Land sprunghaft zu. Die neuen nichtstädtischen Siedlungen liegen in bis dahin nicht oder nur spärlich besiedelten Regionen, nämlich dort, wo bislang die nomadisierenden Gruppen und die Hapiru lebten. Alles spricht dafür, dass die neuen Dörfer von diesen Gruppen errichtet wurden, die nun sesshaft wurden. Soweit archäologisch erkennbar, begann dieser Prozess der Sesshaftwerdung bereits im 13. Jahrhundert. Er war vermutlich ausgelöst durch die Störung des bis dahin gut funktionierenden Zusammenlebens der Städte und der Hirtenstämme. Wahrscheinlich konnten die Sesshaften den Hirtenstämmen im Tausch gegen deren Produkte nicht mehr genügend Getreide bieten, weil sie zu wenig produzierten oder zu viel an ihre Fürsten abgeben mussten. Jedenfalls gingen die Hirtenstämme selbst zum Ackerbau über und bauten ihre Dörfer. Angesichts des Machtvakuums, das dann der Zusammenbruch der Städte und das Ende der ägyptischen Herrschaft bedeutete, übernahmen diese nomadisierenden Gruppen und die sich ihnen anschließenden Hapiru und Schasu selbst die politische Führung im Land. Statt weniger städtischer Zentren, die das umliegende Ackerland beherrschten, gab es nun viele kleine Dörfer, die anscheinend gemeinsam die in unmittelbarer Nähe gelegenen Acker- und Weideflächen bewirtschafteten. Die veränderte Siedlungsstruktur ist zugleich Indiz für eine neue Dorfkultur. Als Träger dieser Dorfkultur tritt für uns damit erstmals »Israel« ins Licht der Geschichte.Dass die neuen Dörfer von sesshaft werdenden Kleinviehnomaden angelegt wurden, lässt sich an zwei Besonderheiten ablesen: am Wohnhaustyp und am Siedlungsprofil dieser Dörfer.Der Typ der Häuser lässt sich (was allerdings von einigen Forschern bestritten wird) von Grundriss und Bautechnik her am ehesten als in Stein umgesetztes Nomadenzelt erklären. In der einfachsten Ausführung bestehen die Dorfhäuser aus einem einzigen Breitraum und einem davor gelegenen ummauerten Hof, der sich über die ganze Hausbreite erstreckt. Das entspricht dem Grundriss eines Nomadenzeltes. Auch in der Bauweise selbst zeigt sich der Anschluss an die Zeltkonstruktion daran, dass - eine Neuheit gegenüber den kanaanäischen Stadthäusern der vorangehenden Epoche - monolithische oder aus größeren Steinen aufgeschichtete Pfeiler eine wichtige Rolle beim Bau dieses Haustyps spielen. Die Pfeiler fungieren als Stützen der Mauern und als Träger des Daches; als freistehende Bauelemente im Hofbereich ermöglichen sie zugleich eine Teilüberdachung des Hofes. Die Funktion dieser Pfeiler hat unübersehbare Analogien in den hölzernen Stangen des Nomadenzeltes. Im Lauf der Zeit wurde der einfache Grundriss komplexer. Der Hof wurde verlängert und an einer oder an beiden Seiten durch einen zusätzlichen, zum Hof selbst hin offenen Raum ausgebaut. Dadurch ergaben sich zwei oder drei überdachte Wohn- beziehungsweise Arbeitsräume und ein nicht überdachter Hofteil. Von dieser Anlage her hat sich für den neuen israelitischen Haustyp die Bezeichnung »Dreiraumhaus« oder »Vierraumhaus« eingebürgert; einer der damit bezeichneten »Räume« ist dabei der nicht überdachte Hof. Das Vierraumhaus war voll auf die Bedürfnisse einer Vieh haltenden und Ackerwirtschaft betreibenden Familie zugeschnitten. Der eigentliche Wohnanteil nahm wenig Raum ein. Im überdachten und im nicht überdachten Hofraum, zu dem man direkt von der Straße her Zugang hatte, wurden Vorräte und Gerätschaften aufbewahrt, aber auch das Vieh gehalten; zugleich spielte sich hier der hauswirtschaftliche Alltag, wie Mahlen des Getreides, Zerstampfen der Gewürze, Kochen, Backen, Weben, ab.Die Anlage der Dörfer weist zwar Unterschiede auf, doch ist den Dörfern gemeinsam, dass sie ein gegenüber der kanaanäischen Stadtkultur eigenständiges Konzept verwirklichen. Die bisherigen Ausgrabungen lassen zwei Dorftypen erkennen. Der eine Typ ist eine geradezu planlose Ansammlung von Häusern auf ziemlich engem Raum. Am Rand bleiben diese Ortschaften eigentümlich offen. Der andere Typ ist eine ringförmige, ovale Aneinanderreihung von Häusern, die durch ihre Anordnung einen freien, unbebauten Mittelplatz bilden, auf den hin die Häuser geöffnet sind. Das entspricht der Art und Weise, wie Kleinviehnomaden ihr Zeltlager aufschlagen. Der Mittelplatz dient für das gemeinsame alltägliche Leben und als nächtliches Lager für die Herden. Nach außen hin bildet der Ring der Häuser (wie bei den Nomaden der Zelte) eine Art Verteidigungsschutz.Auffallend an diesen neuen Dörfern ist, dass alle Häuser den gleichen Grundriss und ungefähr die gleiche Größe haben. Ein größeres Gebäude, das als »Verwaltungszentrum« oder als Sitz eines »Herrschers« gedient hätte, ist bislang nirgends gefunden worden. Dies kann man in soziologischer Hinsicht als Indiz für eine auf Gleichheit gegründete Gesellschaftsform deuten. Berücksichtigt man die geringe Größe dieser Ortschaften (etwa 0,5 bis 1 Hektar) und die sich nahe legende Bevölkerungszahl von schätzungsweise 100 Personen, kann man ein solches Dorf auch als Ansiedlung eines Clans interpretieren. Soweit erkennbar bildeten derartige Dörfer, insbesondere dort, wo sich dies von der Ackerfläche her nahe legte, eine untereinander verbundene Dörfergemeinschaft.Im Vergleich zu den kanaanäischen Städten fällt auf, dass in diesen Dörfern bislang keine Indizien für Kultbauten gefunden wurden. Vermutlich lagen die Kultstätten außerhalb der Dörfer. Sie dürften ohnedies keine Tempel gewesen sein, sondern offene Kultplätze für die Dorf- beziehungsweise die Dörfergemeinschaft. Ein solcher offener Kultplatz, dessen Funktion für bäuerliche Gesellschaften auch aus biblischen Texten erschlossen werden kann, könnte ein im mittelpalästinischen Bergland entdecktes Areal gewesen sein, das von einer Mauer umgeben war und auf dem die Bronzefigurine eines Stieres gefunden wurde. Ob darüber hinaus weitere Kultplätze dieser Epoche archäologisch bezeugt sind, wird derzeit kontrovers diskutiert, ebenso ob und wieweit es neben den gemeinsamen Kultplätzen auch Hinweise auf familiäre Religionsformen gibt.Wer die Gründer und Bewohner dieser zahlreichen neuen Dörfer waren, ist mangels literarischer Zeugnisse, die bislang - mit Ausnahme von Übungstäfelchen zum aramäischen/hebräischen Alphabet - fehlen, nur mit allgemeinen Erwägungen und unter Berücksichtigung der biblischen Überlieferung zu erschließen. Aus kultur- und sozialgeschichtlichen Gründen kommen zunächst zwei Gruppen infrage: die Kleinviehnomaden, die vorher im Bergland sowie im Umkreis der Städte und in wirtschaftlichem Austausch mit diesen gelebt hatten, und Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen dem Gesellschaftssystem der kanaanäischen Stadtstaaten entzogen und als Hapiru und Schasu im Bergland und in den übrigen Freiräumen aufgehalten hatten. Diese Kleinviehnomaden kamen also nicht von außen, aus der syrisch-arabischen Wüste, wie früher angenommen wurde, sondern stammten aus dem Land selbst. Vieles spricht dafür, dass sie die Nachkommen von ehemals sesshaften Bevölkerungsgruppen waren, die um 1550 ihre bäuerliche Lebensweise aufgegeben und hinfort als Kleinviehnomaden gelebt hatten (»Renomadisierung«). Israelische Archäologen haben versucht, die Anzahl der sesshaft lebenden Bevölkerung für die Zeit vor 1550 und nach 1550 zu schätzen. Für das westlich des Jordan gelegene Mittel- und Südpalästina errechneten sie dabei ungefähr 140 000 beziehungsweise 70 000 sesshafte Bewohner. Man könnte diesen Rückgang der in Städten und Dörfern lebenden Menschen zunächst als unmittelbare Folge von Kriegen oder einer ökologischen Katastrophe erklären wollen. Aber dagegen sprechen mehrere Beobachtungen, unter anderem die Tatsache, dass die Zahl der Gräber und Friedhöfe im Land, soweit feststellbar, nicht massiv kleiner wurde. So bleibt die These am wahrscheinlichsten, dass es in dieser Region um 1550 eine erneute Tendenz zum Nomadentum gab, worauf dann ab 1200 gegenläufig eine deutliche Entwicklung zur Wiedersesshaftwerdung folgte.Diese Entwicklung ist bereits ab dem 13. Jahrhundert feststellbar und intensivierte sich sprunghaft ab 1200. Solange die neuen Dörfer in den von den Städten nicht beanspruchten Bergregionen entstanden, boten sie keinen unmittelbaren Anlass zu Konflikten. Das musste sich ändern, sobald die Zahl dieser Dörfer wuchs und sie zu Auffang- und Fluchtbecken von an den Rand gedrängten und geflohenen Städtern (der Hapiru) wurden. So ist nicht auszuschließen, dass die neu entstandenen Dörfer (neben den Seevölkern) auch an der Zerstörung der kanaanäischen Städte mitwirkten.Auf jeden Fall traten die neuen Dörfer ab 1200 die Kultur- und Rechtsnachfolge der kanaanäischen Städte an, das Küstengebiet ausgenommen, wo die Philister ihre Städte beziehungsweise Stadtbündnisse errichteten. Was die Dörfer und die von der kanaanäischen Feudalherrschaft befreiten »Städter«, die den Niedergang der Städte überlebt hatten, verband, war die Ablehnung jener politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Strukturen, die durch die kanaanäischen Stadtstaaten und die ägyptische Herrschaft in jener Epoche geschaffen worden waren.Prof. Dr. Erich Zenger
Universal-Lexikon. 2012.